Seehofers langer Schatten

Der Rat der EU-Innenminister zementiert am 8.Juni eine untaugliche und inhumane Abschottungsstrategie, mit der schon der deutsche Flüchtlingsgipfel das Ziel verfehlt hat. Die wahlkämpfende Innenministerin Nancy Faeser verkauft die Verschärfung als „neue solidarische Migrationspolitik“, doch diese „Solidarität“ wird weder den Flüchtlingen noch den deutschen Kommunen helfen, denn die Belastung der Kommunen ist nicht Folge steigender Asylbewerberzahlen. Deutschland hat sich vielmehr bereits in der Ära Merkel davon verabschiedet, ein integratives Einwanderungsland zu sein. Die Hauptleidtragenden sind die vor den Folgen der „Demokratisierungskriege“ der westlichen Wertegemeinschaft Geflüchteten.
Eine Spurensuche im Ausländerzentralregister
von Reiner Siebert

Er war wohl wenigstens ehrlich, der Horst Seehofer, erster Heimatminister der Republik, als sein schräger, aber echt wirkender Humor im Sommer 2018 für Empörung sorgte. Damals hatte er sich in der Bundespressekonferenz spitzbübisch über 69 Abschiebungen nach Afghanistan an seinem 69.Geburtstag gefreut.

Auch im Juni 2019 schien seine später schelmisch relativierte Aussage, man müsse die Gesetze nur „kompliziert machen“, um sie durchzubringen, durchaus authentisch. Man war dabei, das x-te Migrationspaket zu verabschieden, dessen Kernstück, das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“, versprach, was in zahllosen Gesetzesinitiativen der vergangenen 30 Jahre schon nicht funktioniert hatte, nämlich mehr Menschen ohne ein Bleiberecht zum Verlassen des Landes zu bewegen.

Die selbsternannte „Fortschrittskoalition“ wollte Migration humaner gestalten, aber der zuständigen Ministerin fällt zum Flüchtlingsgipfel im Mai 2023 nicht mehr ein, als Seehofers verfehlte Strategie des Abschreckens, Abschottens und Abschiebens in anderen Worten (effizientere Verfahren – stärkere Grenzkontrolle – konsequente Rückführung1) zu wiederholen. Es ist ein erschreckender Ausdruck von Realitätsverweigerung, der sich in der Folge des EU-Rates der Innenminister am 8.Juni in Luxemburg fortsetzt. Denn dort ist der im hessischen Landtagswahlkampf befindlichen Innenministerin Nancy Faeser gelungen, wovon ihr Vorgänger Horst Seehofer nicht zu träumen gewagt hatte: Die Verlegung der Asylverfahren an die EU-Außengrenzen verkauft Faeser jedoch anders als Seehofer mit einem Narrativ, als habe sie im Kampf für die Menschenrechte das Schlimmste verhindern können.

Dabei ist das Ergebnis ziemlich genau das, was sie nach dem deutschen Flüchtlingsgipfel auch den Kommunen versprochen hatte.  Das EU-Verfahren wird ohnehin – wenn überhaupt – frühestens 2024 umsetzbar sein und nur dann funktionieren, wenn sich die Flüchtenden brav an den Grenzübergängen anstellen, sich in Berechtigte und Unberechtigte aufteilen und wieder zurückschieben lassen. Die „neue solidarische Migrationspolitik“ ist ein politischer Offenbarungseid, ein Beschäftigungsprogramm für Schleuser und Wasser auf die Mühlen der AFD.

Dieses Essay geht der Frage nach, ob tatsächlich gestiegene Flüchtlingszahlen das Kernproblem der Kommunen ausmachen, wie es viele Medien im Kontext des Flüchtlingsgipfels berichtet haben, allerdings ohne den Krieg in der Ukraine als Hauptursache zu benennen. Fallstudien und Beratungserfahrungen aus der Integrationsarbeit mit mehr als 500 Zugewanderten und ihren Familien aus mehr als 30 Ländern im Rahmen eines gewerkschaftlichen Projekts2 legen stattdessen nahe, dass komplizierte, restriktive Gesetze und überlastete Behörden systematisch Integrationserfolge verhindern oder gar zunichtemachen sowie prekäre Lebenslagen und damit die Abhängigkeit von kommunalen Sozialleistungen verlängern. Eine Auswertung aktueller Daten des Ausländerzentralregisters3 stützt diese These.

Die Merkmale zum gesetzlichen Aufenthaltsstatus, die im AZR in nicht weniger als 195 verschiedenen Varianten verzeichnet sind, scheinen in ihren wesentlichen Unterscheidungen für eine Untersuchung des Erfolgs bzw. Misserfolgs der Migrations- und Integrationspolitik generell sowie einer Verschiebung der Kosten bundesgesetzlicher Migrationssteuerung zu Lasten der Kommunen besonders geeignet, denn dort sind nicht nur Asylsuchende, sondern alle ‚Nicht-Deutschen‘ erfasst. 

Vor allem aber beschränkt das Aufenthaltsrecht in seinen Abstufungen gleichzeitig normativ elementare Grundrechte, Zugänge zu Arbeits- und Wohnungsmärkten, Bildungsangeboten und integrationsfördernden Maßnahmen. Der Aufenthaltsstatus bestimmt somit nicht nur maßgeblich die Abhängigkeit von Sozialleistungen zu Lasten der kommunalen Haushalte, sondern kann als Spiegelbild der Integrationsbereitschaft des Aufnahmelandes Deutschland insgesamt angesehen werden.4

Insofern sollte eine sich als integrativ verstehende Einwanderungsgesellschaft daran gemessen werden, in welchem Maße es ihr gelingt, unsicheren Aufenthaltsstatus zu minimieren und unbefristetes Bleiberecht zu erhöhen, je länger die Zugewanderten im Land leben. Dies muss erst recht dann gelten, wenn eine kontinuierlich hohe Nettozuwanderung für den Arbeitskräftebedarf ohnehin für nötig gehalten wird.

Vor dem Hintergrund des normativen Spannungsverhältnisses deutscher Integrationspolitik, welche das Recht zur Integration vom Aufenthaltsstatus abhängig macht, während umgekehrt ein gesichertes Bleiberecht nur bei nachgewiesenen Integrationsleistungen gewährt wird, stellen sich daher folgende Fragen: 

Wie ist die Zugehörigkeit zu verschiedenen Statusgruppen des Aufenthaltsrechts verteilt und wie hat sie sich entwickelt? 

Wie durchlässig sind die durch das Aufenthaltsrecht gesetzten Statusgrenzen, also wie häufig gelingt es Zuwanderungsgruppen, von einem befristeten und eingeschränkten Aufenthaltsstatus zu einem unbefristeten Niederlassungsrecht ‚aufzusteigen‘?

Im Fokus der statistischen Überprüfung dieser Fragen stehen Staatsangehörige aus Drittstaaten (außerhalb der Europäischen Union), die gemäß der Registrierung im AZR verschiedenen Statusgruppen mit einem unbefristeten (A), einem befristeten (B) oder ohne einen Aufenthaltstitel (C) zugeordnet sind 5.

Besondere Beachtung richtet sich dabei auf die Menschen in der Gruppe C ohne Aufenthaltstitel, deren Aufenthaltsstatus als prekär bezeichnet werden muss; dort befinden sich Menschen, 

  • die sich im Asylverfahren befinden; 
  • die sich (zum Teil wiederholt) im Antragsverfahren für einen Aufenthaltstitel befinden;
  • die ausreisepflichtig sind, aber deren Abschiebung ausgesetzt ist (Geduldete); 
  • die über keinen solchen Status verfügen, sich also formal gesehen illegal in Deutschland aufhalten6.

Die Zugehörigkeit zu den ersten beiden Teilgruppen ist nicht statisch, sondern der Verbleib in ihnen wechselt jeweils in einem Zyklus, der abhängig von der Dauer der Antragsverfahren einige Monate bis jahrelang andauern kann. Der Wechselzyklus als solcher ist dabei nicht grundsätzlich problematisch, wenn er denn zeitlich begrenzt bleibt und eine hinreichende Aufstiegsdynamik  beinhaltet, die einen nennenswerten Anteil in die höheren Statusgruppen aufsteigen lässt. 

Die Zugehörigkeit zu den statusniederen Teilgruppen C3 (Geduldete) und C4 (ohne Status) verändert sich demgegenüber prinzipiell wenig, denn der Wechsel aus diesen Teilgruppen ist nur sehr langfristig, beispielsweise über Ausbildungs– bzw. Beschäftigungsduldungen, oder durch Ausreise erreichbar. 

Die Antragstellenden sowie die Geduldeten sind wiederum im Wesentlichen von kommunalen Leistungen abhängig, während Zugewanderte ohne Arbeit, aber mit Aufenthaltstitel für sich und ihre Kinder Grundsicherungsleistungen der Jobcenter erhalten, sofern sie denn minimal (>15 Stunden pro Woche) arbeitsfähig sind. 

Prekärer Aufenthalt

Ende 2022 leben in Deutschland fast 2 Millionen Menschen in einem prekären Aufenthaltsstatus, der mit zum Teil erheblichen Einschränkungen ihrer Grund- und Bürgerrechte einhergeht. Im Vergleich zu 2016 entspricht dies einem Anstieg um 40%. Seit 2010 hat sich die Zahl sogar versechsfacht.

Doch ist dies nicht das Ergebnis der nun wieder ansteigenden Asylbewerberzahlen, denn die Zahl derer mit einer Aufenthaltsgestattung (C1), die anzeigt, dass sie sich in einem laufenden Asylverfahren befinden, hat sich seit 2016 halbiert und liegt Ende 2022 etwa auf dem Stand vor den beiden Coronajahren. Da sich zum Jahresende jedoch 27% mehr Menschen im Asylverfahren befinden als im Jahresverlauf Asylanträge gestellt haben, zeigt sich schon statistisch, dass ein beträchtlicher Teil der Asylverfahren noch immer wesentlich länger dauert als ein Jahr.

Das katastrophale Ausmaß der Überlastung der Ausländerbehörden in Kreisen und Städten drückt sich tatsächlich in der Zahl derer aus, die nicht ausreisepflichtig sind, sondern einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel (C2) gestellt haben, aber aufgrund der umfangreichen gesetzlichen Prüfverfahren oft viele Monate auf eine Entscheidung warten und sich mit ‚Ersatzpapieren‘ durchschlagen müssen.  Diese sogenannten Fiktionsbescheinigungen, bei denen vielen Arbeitgebern, Vermietern und selbst Behörden nicht bekannt ist, dass es sich um Ausweisersatzpapiere handelt, müssen oft selbst mehrmals verlängert werden und führen so zu Lasten der Antragstellenden zu erheblichen Verzögerungen und Benachteiligungen auf den Wohnungs- und Arbeitsmärkten sowie bei Verwaltungsverfahren. Die Anzahl der offenen Anträge auf einen Aufenthaltstitel hat sich seit 2016 mehr als verdreifacht und ist selbst binnen Jahresfrist 2022 um knapp 50% angewachsen.

Die Zahl der Ausreisepflichtigen (C3), also jener mit einer Duldung (Aussetzung der Abschiebung), stieg seit 2016 um 60% auf eine Viertelmillion. Selbst nach der Übernahme der Ampelkoalition, die sich eine Wende zu einem „Chancenaufenthaltsrecht“ auf die Fahnen geschrieben hatte, erhöhte sich die Anzahl der Geduldeten innerhalb von 12 Monaten nochmals um 3% statt wie versprochen zu sinken. Sie machen einen erheblichen Teil des Arbeitsaufwands der Ausländerämter aus, da die Duldungen oft nur wenige Monate gelten, und tragen damit – in einem verwaltungsinternen Aufgabenstau – auch zur erheblichen Verlängerung der Wartezeiten anderer Statusgruppen bei, zum Beispiel der Gruppe der ersehnten Fachkräfte, die dem Ruf Make It in Germany gefolgt sind.

Schließlich gibt es eine vierte Gruppe unter jenen in  Aufenthaltsprekarität. Es handelt sich um Menschen, die keinen Antrag stellen oder ‚abgetaucht‘ sind, gänzlich ohne jeden Status (C4) bleiben und damit auf wesentliche Rechte und eine Grundsicherung verzichten. Diese Gruppe ist seit 2016 um die Hälfte größer geworden. Dieser Anstieg dürfte aber trotz statistischer Fehler ebenso wie der Zuwachs bei den Antragstellern (C2) auch mit der Belastung der Behörden durch Flüchtlinge aus der Ukraine zusammenhängen, die im Gegensatz zu anderen Drittstaatlern kein Asylverfahren durchlaufen müssen. Doch machen ukrainische Staatsangehörige jeweils nur knapp ein Viertel der beiden Gruppen (C2+C4) aus. Die Zahl der Antragsverfahren (also der Menschen, die bereits eine Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis haben) hatte sich bereits vor dem Krieg in der Ukraine gegenüber 2016 mehr als verdoppelt.

Zusammengefasst ist die Zahl derer, die von Städten und Gemeinden untergebracht und versorgt werden müssen, schon lange vor dem Ukrainekrieg selbst bei sinkenden Asylbewerberzahlen kontinuierlich angestiegen. Die finanziellen Belastungen der Kommunen sind also nicht etwa durch kurzfristig mehr Flüchtende aus anderen Ländern als der Ukraine verursacht, sondern resultieren – da ukrainische Geflüchtete ja mehrheitlich Grundsicherungsleistungen der Jobcenter erhalten – aus der systematischen Überforderung des Systems der rechtlichen Integration durch komplizierte Gesetze und Verwaltungsverfahren sowie dem sturen Festhalten an verfehlten Abschreckungs- und Rückführungsstrategien, was zu viele langjährig in Deutschland ansässige Zugewanderte in prekären Aufenthaltsszenarien festhält und das Recht auf Teilhabe mit dem Ziel einer eigenverantwortlichen Integration in vielen Fällen verhindert.

Geringe Aufstiegsmobilität

Aus den Gesamtzahlen aller Drittstaatler im Ausländerzentralregister lässt sich eine nennenswerte aufenthaltsrechtliche Aufstiegsmobilität nicht ableiten, denn die Betrachtung der Statusgruppen A-C im Zeitverlauf zeigt, dass sich langfristig die Zahl derer mit unbefristeter Niederlassungserlaubnis (A) seit mehr als 20 Jahren absolut nur marginal erhöht hat (von 2,3 Mio 2000 auf 2,6 Mio Ende 2022). Der Anteil dieser aufenthaltsrechtlich als voll integriert geltenden Drittstaatler ist aber seit 2010 von über 50% auf knapp ein Drittel kontinuierlich gesunken, während der Anteil jener mit unsicherem Aufenthalt (C) sich seit 2016 nur vorübergehend und unwesentlich verringert hat (bei einem deutlichen Anstieg in den absoluten Zahlen, wie oben ausgeführt). Auch der Anteil der Einbürgerungen, der konstant bei etwa 1% pro Jahr liegt, kann diesen eklatanten Mangel an aufenthaltsrechtlicher Integration nicht ausgleichen, wie der schmale Streifen am unteren Rand der Grafik zeigt. Die 68.510 Einbürgerungen von Drittstaatlern7 im Jahr 2021 erreichten erst durch zahlreiche Einbürgerungen von Asylberechtigten aus Syrien wieder das Niveau des Jahres 2000, nachdem die Zahl zwei Jahrzehnte lang teils mehr als ein Drittel niedriger gelegen hatte. Dennoch steigt deren Anteil auf kaum mehr als 1%.

Statusindikatoren
Die 32% aller Drittstaatler mit unbefristetem Aufenthalt enthalten jedoch auch die langfristige Zuwanderung aus Arbeitsmigration etwa aus der Türkei. Um die Fragen nach der aufenthaltsrechtlichen Integration und der Aufenthaltsprekarität jüngerer Zuwandererkohorten beantworten zu können, wurden daher drei Indikatoren gebildet, die den Anteil der aufenthaltsrechtlichen Statusgruppen A und C an der Gesamtzahl der jeweiligen Bezugsgruppe zur durchschnittlichen Aufenthaltsdauer ins Verhältnis setzen. Diese Statusindikatoren sollen Aufschluss darüber geben, ob bei längerer durchschnittlicher Aufenthaltsdauer einer Gruppe eine höhere Aufenthaltssicherheit bzw. eine niedrigere Aufenthaltsprekarität erwartbar sein können. Von besonderem Interesse ist der Aufenthaltszeitraum zwischen 5 und 10 Jahren, in welchem die zeitlichen Voraussetzungen für eine unbefristete Niederlassungserlaubnis und sogar für die Einbürgerung erfüllt sind. Die quantitativ hohe Fluchtzuwanderung der Jahre 2014-16 fällt ebenfalls in diesen Zeitraum.

Der Vergleich wurde für dieses Papier anhand der Jahresdaten 2022 des AZR für die Gesamtzahl aller Drittstaatler sowie für einige der wichtigsten Fluchtländer und -regionen der letzten 10 Jahre vorgenommen. 

Integration schwer gemacht

Die Zugewanderten aus allen Drittstaaten halten sich durchschnittlich gut 13 Jahre lang in Deutschland auf, allerdings nur ein knappes Drittel dieser Menschen verfügt über einen nachhaltig sicheren Aufenthaltsstatus. Deutschland hat sich damit in der Ära Merkel faktisch weit davon entfernt, ein nachhaltig integratives Einwanderungsland zu sein, wenn man bedenkt, dass der Anteil 2010 noch über 50% gelegen hatte und es sicher keine überzogene Erwartung ist, nach 10 Jahren Aufenthalt die Hälfte der Zugewanderten zumindest rechtssicher integriert zu haben. 

Doch die nachhaltige Integration Zugewanderter aus afrikanischen Staaten und den im vergangenen Jahrzehnt wichtigsten Fluchtstaaten ist selbst daran gemessen weit unterdurchschnittlich. Staatsangehörige einzelner Länder scheinen dabei besonders schlechte Chancen auf eine Niederlassungserlaubnis zu haben: Nur 6,4% der Afghaninnen und Afghanen verfügen Ende 2022 über einen dauerhaft gesicherten Aufenthalt. Sie sind damit weniger rechtssicher integriert als syrische oder ukrainische Menschen, obwohl sie sich im Durchschnitt länger in Deutschland aufhalten.

Der Statusindikator C richtet die Aufmerksamkeit auf Bürgerinnen und Bürger aus Drittstaaten ohne einen Aufenthaltstitel, also gewissermaßen ans untere Ende der Statusskala. Nahezu ein Viertel aller Personen aus Drittstaaten verfügen nicht über einen Status, der ihnen Grundrechte und Teilhabe zumindest befristet sichert, obwohl sich die Gesamtheit dieser Gruppe im Durchschnitt bereits über 13 Jahre in Deutschland aufhält. Bei Staatsangehörigen aus afrikanischen Staaten, Irak und Afghanistan ist der unsichere Aufenthaltsstatus bei mehr als einem Drittel und damit besonders häufig anzutreffen, obwohl die durchschnittliche Aufenthaltsdauer länger ist als bei Menschen aus Syrien oder der Ukraine.

Dieses Bild wird auch sichtbar, wenn innerhalb der Statusgruppe C nur die eher ‚statischen‘ Teilgruppen fokussiert werden, innerhalb derer kaum ein Wechselzyklus durch abgeschlossene Antragsverfahren auftritt. Aus Afrika und dem Irak ist fast jeder Fünfte von dieser extremen und gleichzeitig verfestigten Aufenthaltsprekarität betroffen. Doch auch Menschen aus Afghanistan sind mit 15% überdurchschnittlich häufig in dieser Lage, während der hohe ukrainische Anteil von 14% überwiegend durch nicht vollständig angemeldete oder nicht abgemeldete Personen im ersten Kriegsjahr zustande gekommen sein kann.

Zusammengefasst belegen die niedrigen Raten nachhaltig rechtssicherer Integration (A) sowie die hohen Anteile prekären Aufenthalts (C) trotz langjähriger Aufenthaltsdauer deutlich, wie sehr die immer wieder neu aufgelegte Strategie der Abschreckung und Rückführung gescheitert ist, weil sie die Integration großer Teile der Zugewanderten trotz jahrelangen Aufenthalts systematisch verhindert, anstatt wenigstens deren Potenzial für die Arbeitskräftenachfrage zu mobilisieren, wenn schon humanitäre Gesichtspunkte keine Berücksichtigung finden. 

Die Menschen aus Afghanistan und dem Irak, deren Flucht in erheblichen Teilen als Folge der gescheiterten „Demokratisierungskriege“ in diesen Ländern gesehen werden muss, sind dabei in beträchtlichem Ausmaß die Leidtragenden in einer oft dauerhaft prekären Lage und geringen Chance auf dauerhafte Integration, obwohl sie mit 25 Jahren im Schnitt 10 Jahre jünger sind als andere Drittstaatler und sogar 15 Jahre jünger als Zugewanderte aus Europa. Das Potenzial für eine arbeitsmarktorientierte Bildungs- und Integrationsoffensive wäre also selbst bei niedrigerem Grundbildungsstand erheblich.

Auch Zugewanderte aus afrikanischen Ländern sind weit überdurchschnittlich von Aufenthaltsprekarität betroffen und genießen – gemessen an der durchschnittlich viel längeren Aufenthaltsdauer – in geringerem Maße ein Daueraufenthaltsrecht. Da die Gesamtgruppe sehr heterogen und daher statistisch unscharf ist, befinden sich unter den Einzelstaaten, deren Angehörige zu hohen Anteilen in extrem prekärem Aufenthaltsstatus (C3,4) und geringer Aussicht auf ein Daueraufenthaltsrecht leben, eine ganze Reihe von Ländern in Sub-Sahara Afrika, wie z.B. Gambia, Guinea und Nigeria. Auch Zugewanderte aus afrikanischen Ländern sind mit 30 Jahren im Durchschnitt wesentlich jünger als Europäer. 

Verwaltungschaos
Das Ausmaß der Überlastung der Ausländerbehörden war bereits aus den Gesamtzahlen deutlich ersichtlich. Doch die Unfähigkeit der Behörden, der Bearbeitungsstaus angesichts komplizierter Gesetze in angemessener Zeit Herr zu werden, bedeutet auf Seite der Antragsteller auch Einschränkungen, Wartezeiten und Stress bei den Menschen, deren Lebensumstände maßgeblich von Behördenentscheidungen abhängen. Wer einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel (C2) gestellt hat, befindet sich bereits im Bearbeitungsstau; wer aber aufgrund einer Duldung (C3) mehrmals im Jahr bei der Ausländerbehörde vorsprechen muss, bindet dort Kapazitäten, die bei der Bearbeitung von Aufenthaltstiteln fehlen. Daher richtet sich der Blick des dritten Statusindikators auf die Anteile dieser beiden Teilgruppen.

Mehr als 10% aller Drittstaatler befindet sich in einem mehr oder weniger kontinuierlich schwebenden Verfahren der Ausländerbehörden, bei Staatsangehörigen aus afrikanischen Staaten oder dem Irak ist es sogar fast jeder Fünfte. Diejenigen unter ihnen mit Duldungsstatus müssen von den Kommunen auch dann noch untergebracht und versorgt werden, wenn sie bereits seit vielen Jahren in Deutschland leben.

Bezogen auf die Belastung der Kommunen lässt sich daher resümieren, dass keineswegs der kurzfristige Anstieg der Flüchtlingszahlen deren personelle und finanzielle Kapazitäten  sprengt, sondern 

1. die kurzfristig hohe Zahl der Zugewanderten aus der Ukraine, die allerdings finanziell im Wesentlichen das System der Grundsicherung (Bürgergeld) betrifft, die Kommunen also nur indirekt über die Kosten der Unterkunft belastet. 

2. In finanzieller Hinsicht ist der Zuwachs derer ohne Chance auf Integration trotz langjährigem Aufenthalt ein Kostenfaktor für die Kommunen, da sie deren Unterbringung und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erbringen müssen. 

3. Systemisch problematisch und damit personell und strukturell belastend sind allerdings hauptsächlich die aufenthaltsrechtlichen Dokumentations- und Entscheidungsprozesse der „komplizierten Gesetze“ (sic!), die noch dazu häufig Ermessensentscheidungen der Behörden beinhalten, was wiederum rechtssicher begründet werden muss.

Tatsächlich haben die „komplizierten Gesetze“, deren (nicht erst von Seehofer) beabsichtigte Abschreckungswirkung nie eingetreten ist und – das wissen alle, die sich ernsthaft fachlich mit dem Thema befassen – auch nicht eintreten wird, erheblich zum drohenden Kollaps der Ausländerbehörden beigetragen, welche die bürokratische Hauptlast des bundesgesetzlichen Ausländerrechts vor Ort tragen müssen. Selbst ausgebildete und erfahrene Verwaltungsfachkräfte der Kommunen benötigen eine mehrmonatige Einarbeitungszeit um im rechtlichen Dickicht des Ausländer-, Aufenthalts- und Asylrechts arbeitsfähig zu werden, vorausgesetzt jemand lässt sich überhaupt in die ungeliebten ‚Ausländerämter‘ versetzen.

Schlussfolgerungen
Die Analyse der Ausländerstatistik bestärkt die Rückschlüsse aus zahlreichen Fallstudien und Beratungskontexten8, dass komplexe und restriktive ausländerrechtliche Regelungen zu einer steigenden Belastung kommunaler Behörden und zu Integrationshemnissen bereits lange vor dem Ukrainekriegs geführt haben.

Deutschland hat sich in der Ära Merkel faktisch weit davon entfernt, ein nachhaltig integratives Einwanderungsland zu sein. Dem dramatischen Anstieg der unter prekären Aufenthaltsbedingungen lebenden Menschen zufolge überlasten die komplizierten, restriktiven Gesetze nicht nur die kommunale Verwaltung, sondern haben die Integration langjährig ansässiger Menschen sogar verzögert oder verhindert, weil man wider besseren Wissens selbst bei jahrelanger Aussetzung der Abschiebung am Dogma einer Rückführung festhält, die weder umsetzbar ist noch abschreckt.

Der prekäre Aufenthalt löst für die Betroffenen multiple Abhängigkeiten von Entscheidungen und dem Zusammenwirken unterschiedlicher Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden aus. Sie sind von großer Unsicherheit und Zukunftsangst betroffen, die auch jene ergreift, die zumindest einen befristeten Aufenthaltstitel besitzen, denn auch sie wissen oft nicht, ob und wie lange sie in Deutschland bleiben dürfen, ob sie arbeiten oder sich bilden dürfen, ob sie Arbeitsstellen antreten können oder gar verlieren, ob sie umziehen dürfen oder eine Wohnung ohne dauerhaften Aufenthaltsnachweis überhaupt finden können. Vor allem wissen viele nicht, ob und wann sie Familienangehörige wiedersehen oder wie sie ihnen helfen können, wenn diese unter noch wesentlich prekäreren Bedingungen leben müssen, auf Fluchtrouten feststecken oder auch im türkischen oder syrischen Erdbebengebiet alles verloren haben. 

Unter den größten Flüchtlingsgruppen der letzten 10 Jahre sind Zugewanderte aus Afghanistan und dem Irak, deren Flucht in erheblichen Teilen als Folge der gescheiterten „Demokratisierungskriege“ in diesen Ländern gesehen werden muss, sowie Staatsangehörige afrikanischer Staaten von prekärem Aufenthalt und geringeren Chancen auf ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht besonders betroffen, was allein angesichts des wachsenden Arbeitskräftebedarfs als integrationspolitische Katastrophe gelten kann.

Aus dem Ausland und selbst von anderen Kontinenten werden zunehmend Arbeitskräfte angeworben, ohne die Bildungspotenziale der genannten, überwiegend jungen Zuwanderergruppen in Deutschland auch nur in Betracht zu ziehen, geschweige denn offensiv zu fördern.

Dem Einwand innenpolitischer Abschreckungsstrategen, Bildungsinvestitionen in Gruppen ‚ohne Bleibeperspektive‘ seien weder effektiv noch finanzierbar, kann entgegengehalten werden, dass Deutschland sich nicht scheut, die Bildungsausgaben anderer Staaten in neokolonialer Manier zu nutzen, indem bereits schulisch und beruflich Ausgebildete angeworben werden.

In den letzten drei Jahren hat die Bundesagentur für Arbeit allein im Berufsbereich der Gesundheitsfachkräfte 145.323 Arbeitserlaubnisse für Drittstaatsangehörige zur Beschäftigung in Deutschland ausgestellt9. Dies entspricht nach den BA-eigenen Bundesdurchschnittskostensätzen für die Förderung beruflichen Weiterbildung einem Ausbildungsgegenwert, d.h. eingesparten Ausbildungskosten von 4,65 Milliarden Euro bzw. 1,55 Milliarden Euro pro Jahr. Bezieht man alle Berufe ein, kommt man auf 6,9 Milliarden Euro, pro Jahr! Wenn diese nicht den Entsendeländern zurückgezahlt werden, wäre das doch eine prima Grundlage für eine Bildungsoffensive für Zugewanderte.


[1] ZEIT online, 11.05.2023

[2] Siebert, R. (2022): Wer Fachkräfte will, muss in Menschen investieren, nicht in Leiharbeiter, in: Labournet.de, 02.09.2022

[3] AZR-Ausländerzentralregister, statistisches Bundesamt (destatis): Ausländerstatistik 12521, Stichtagsbetrachtung jeweils zum 31.12., Stand Mai 2023

[4] Vgl. dazu u.a. Gundelach, L. (2020). Recht als Integrationshemmnis. In: Jepkens, K., Scholten, L., van Rießen, A. (eds) Integration im Sozialraum. Springer VS, Wiesbaden; Brücker, H. (2022), iab-Forschungsbericht 4/2022, S.20f, Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg.

[5] Da die Daten des Ausländerzentralregisters aus Datenschutzgründen nicht als Einzeldatensätze vorliegen, mit denen der Wechsel zwischen verschiedenen Gruppen statistisch exakt gemessen werden könnte, wird die Analyse auf Basis aggregierter Gruppenergebnisse im Jahresverlauf bzw. für einzelne Länder vorgenommen.

[6] Bei der Teilgruppe C4, die in der Ausländerstatistik nach dem Ausländerzentralregister unter der Rubrik „Ohne Aufenthaltstitel, Duldung oder Gestattung“ firmiert, ist von einem deutlichen höheren statistischen Fehler als in anderen Statusgruppen auszugehen, z.B. weil Ausreisende sich bei den Ausländerbehörden nicht abmelden.

[7] Drittstaatler beziehen sich auf die EU28, d.h. das Vereinigte Königreich wird hier nicht als Drittstaat gezählt

[8] Siebert, R. (2019): Der steinige Weg zur beruflichen Integration : Was Ankommensgeschichten von Zugewanderten über Fachkräftebedarfe und Integrationsverläufe erzählen und was wir daraus lernen (können) in: Alexandra David et al [Hrsg.]: Migration und Arbeit : Herausforderungen, Problemlagen und Gestaltungsinstrumente, Opladen 2019

9 Bundesagentur für Arbeit: Statistik, Zustimmungen und Ablehnungen zur Arbeitsaufnahme von Drittstaatsangehörigen, Deutschland, Berichtsmonat 12/2022, Erstelldatum 20.02.23