Bittere Bilanz zum Weltflüchtlingstag

Die Bilanz zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni ist auch aus deutscher Sicht bitter

Fast 110 Millionen Geflüchtete zählt der UNHCR für Ende 2022. 70% sind Frauen und Kinder. Doch zwischen Flüchtlingsgipfeln und Weltflüchtlingstag im Frühjahr 2023 versinkt das Recht auf Schutz Flüchtender mit Hunderten von ihnen im Mittelmeer. Gleichzeitig versteckt Deutschland hinter mehr als 2 Millionen bereits Aufgenommenen, dass es von einer Belastungsgrenze im globalen Maßstab weit entfernt ist, und will nicht wahrhaben, dass die ausländerrechtliche Abschreckungspraxis Integration systematisch behindert. Im Osten geschieht dies doppelt so häufig wie im Westen. Können wir wirklich nicht mehr tun?

Seit mehr als 10 Jahren muss der UNHCR, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, alljährlich eine neue Rekordzahl melden, so auch in diesem Jahr: 108,4 Millionen Geflüchtete, Vertriebene und Schutzbedürftige sind zu beklagen; die Ursachen liegen seit Langem auf der Hand und werden jedes Jahr aufs Neue aufgezählt: Kriege, Verfolgung, Unterdrückung, Landraub, Klimawandel, Verlust der Lebensgrundlagen – eine bittere Bilanz in einer Welt der Nationen, in einer Welt der Globalisierung.

Haben wir wirklich viel mehr Geflüchtete aufgenommen als die meisten anderen Länder?

Ja, das haben wir – in absoluten Zahlen! Deutschland ist, allerdings weit hinter der Türkei, dem Iran und Kolumbien, unter den Top 5 weltweit, aber das auch nur, wenn man die große Mehrheit der Flüchtenden, die das eigene Land gar nicht verlassen können oder wollen, nicht mitzählt. Berücksichtigt man ALLE weltweit Geflüchteten, dann ist Deutschland mit seinen 2,3 Millionen UNHCR-registrierten Flüchtlingen auf Platz 14, aber immer noch vor allen anderen EU- und Industrieländern.

Doch diese Zahlen sagen nichts über die Aufnahmefähigkeit aus, denn größere Länder können natürlich mehr Menschen aufnehmen als kleine. Zählt man also die Aufgenommenen im Verhältnis zur Einwohnerzahl eines Landes, wird erst deutlich, wie groß der Anteil der Geflüchteten und damit die sichtbare Belastung wirklich ist. Stellen wir uns vor, wir säßen in einem Theater mit 1000 Sitzplätzen, 20 Reihen á 50, dann wird bei uns gerade gut die Hälfte der letzten Reihe von 28 Geflüchteten besetzt. In diesem Ranking belegt Deutschland weltweit Platz 47 und liegt damit auch hinter EU-Ländern wie Lettland, Zypern, Tschechien, Österreich oder Schweden.

Wer kann sich Flüchtlinge leisten?

Jeder der 972 Übrigen im „Deutschen Theatersaal“ hat eine Wirtschaftskraft (BIP 2021) von etwa 50.000€, während in der Türkei, wo 45 von 1000 Einwohnern geflüchtet sind, die Wirtschaftsleistung nur etwa 9000€ pro Kopf erreicht. Trauriger Spitzenreiter in dieser Rangliste, in der Deutschland Platz 94 belegt, ist der Süd-Sudan, wo für jede Million US-Dollar Wirtschaftsleistung 445 Geflüchtete versorgt werden müssen. In Deutschland ist es ein Einziger, in den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien und den USA nicht einmal das.

Angesichts der Dramatik der Flüchtlingslage weltweit und seiner stark von Globalisierung und Exporten abhängigen Wirtschaft ist Deutschland damit von einer Belastungsgrenze durch Fluchtzuwanderung sehr weit entfernt. Allenfalls unter den gleichgesinnten westlichen Industriestaaten kann Deutschland als „Einäugiger unter den Blinden“ einen Vorreiterstatus für sich beanspruchen.

Und wie geht es denen, die bereits hier sind?

Um diese Frage zu beantworten, werden die Daten der Ausländerstatistik herangezogen, die vom Bundesamt für Statistik (destatis) jährlich zum Stichtag 31.12. aus dem Ausländerzentralregister erhoben werden. Da sie in einer Vollerhebung alle in Deutschland gemeldeten Ausländer erfassen, sind sie für eine Untersuchung des Erfolgs der Migrations- und Integrationspolitik besser geeignet als die Asylbewerberzahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Das BAMF erfasst nämlich in der Asylstatistik auch Anträge derer, die gar nicht neu eingereist sind (z.B. Familienangehörige), zählt hingegen weder die Zugewanderten aus der Ukraine noch die Arbeitsmigration. 

Der im Ausländerzentralregister registrierte Aufenthaltsstatus bildet die Rechtsgrundlage für alle Rechte und Pflichten Zugewanderter und bestimmt somit nicht nur maßgeblich die Abhängigkeit von Sozialleistungen zu Lasten der kommunalen Haushalte, sondern kann als Spiegelbild der Integrationsbereitschaft des Aufnahmelandes Deutschland insgesamt angesehen werden.[1]

Vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses deutscher Integrationspolitik, welche das Recht zur Integration vom Aufenthaltsstatus abhängig macht, während umgekehrt ein gesichertes Bleiberecht nur bei nachgewiesenen Integrationsleistungen gewährt wird, stellen sich daher folgende Fragen: 

Wie ist die Zugehörigkeit zu verschiedenen Statusgruppen des Aufenthaltsrechts verteilt? 

Gibt es Unterschiede bezüglich der Herkunftsländer oder der aufnehmenden Bundesländer?

Im Fokus der statistischen Überprüfung dieser Fragen stehen Staatsangehörige aus Drittstaaten (außerhalb der Europäischen Union), die gemäß der Registrierung im AZR verschiedenen Statusgruppen mit einem unbefristeten (A), einem befristeten (B) oder ohne einen Aufenthaltstitel (C) zugeordnet sind [2].

Weniger Ausländer und weniger Integrationschancen im Osten

Ende 2022 leben in Deutschland fast 2 Millionen Menschen in einem prekären Aufenthaltsstatus, das heißt zeitweise oder dauerhaft ohne einen Aufenthaltstitel, was mit zum Teil erheblichen Einschränkungen ihrer Grund- und Bürgerrechte einhergeht. Es sind damit fast genauso viele wie Deutschland laut UNHCR insgesamt an Flüchtlingen aufgenommen hat. Im Vergleich zu 2016 entspricht dies einem Anstieg um 40%. Seit 2010 hat sich die Zahl sogar versechsfacht.

Doch ist dies nicht das Ergebnis der nun wieder ansteigenden Asylbewerberzahlen, denn die Zahl derer mit einer Aufenthaltsgestattung, die anzeigt, dass sie sich in einem laufenden Asylverfahren befinden, hat sich seit 2016 halbiert und liegt Ende 2022 etwa auf dem Stand vor den beiden Coronajahren. 

Die Analyse der Ausländerstatistik belegt, dass Drittstaatsangehörige in der Gesamtbevölkerung der Bundesländer sehr ungleich verteilt sind. Im Osten fällt der Anteil mit 2,5-3,1% deutlich kleiner aus als in Ländern der alten Bundesrepublik, während gleichzeitig deutlich weniger Zugewanderte aus Drittstaaten zumindest über einen befristeten Aufenthaltstitel verfügen. Die niedrige Bevölkerungsquote in den östlichen Flächenländern führt bei gleicher Gesetzesgrundlage des Aufenthaltsrechts und Zuständigkeit der kommunalen Ausländerbehörden nicht etwa zur schnelleren Bearbeitung von Anträgen oder auch Rückführungen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Angehörige von Staaten außerhalb der EU in einem unsicheren Aufenthaltsstatus verharren, liegt im Gegenteil im Osten bis zu dreimal höher.

Integration schwer gemacht

Aus den Gesamtzahlen aller Drittstaatler im Ausländerzentralregister lässt sich eine nennenswerte aufenthaltsrechtliche Aufstiegsmobilität nicht ableiten, denn die Betrachtung der Statusgruppen im Zeitverlauf zeigt, dass sich langfristig die Zahl derer mit unbefristeter Niederlassungserlaubnis seit mehr als 20 Jahren nur marginal erhöht hat (von 2,3 Mio 2000 auf 2,6 Mio Ende 2022). Der Anteil dieser aufenthaltsrechtlich als voll integriert geltenden Drittstaatler ist aber seit 2010 von über 50% auf knapp ein Drittel kontinuierlich gesunken, während der Anteil jener mit unsicherem Aufenthalt sich seit 2016 nur vorübergehend und unwesentlich verringert hat (bei einem deutlichen Anstieg in den absoluten Zahlen, wie oben ausgeführt). Auch der Anteil der Einbürgerungen, der konstant bei etwa 1% pro Jahr liegt, kann diesen eklatanten Mangel an aufenthaltsrechtlicher Integration nicht ausgleichen.

Die Zugewanderten aus allen Drittstaaten halten sich durchschnittlich gut 13 Jahre lang in Deutschland auf, allerdings nur ein knappes Drittel dieser Menschen verfügt über einen nachhaltig sicheren Aufenthaltsstatus. Deutschland hat sich damit in der Ära Merkel faktisch weit davon entfernt, ein nachhaltig integratives Einwanderungsland zu sein, wenn man bedenkt, dass der Anteil 2010 noch über 50% gelegen hatte und es sicher keine überzogene Erwartung ist, nach 10 Jahren Aufenthalt die Hälfte der Zugewanderten zumindest rechtssicher integriert zu haben.

Doch die nachhaltige Integration Zugewanderter aus afrikanischen Staaten und den im vergangenen Jahrzehnt wichtigsten Fluchtstaaten ist selbst daran gemessen weit unterdurchschnittlich. Staatsangehörige einzelner Länder scheinen dabei besonders schlechte Chancen auf eine Niederlassungserlaubnis zu haben: Nur 6,4% der Afghaninnen und Afghanen verfügen Ende 2022 über einen dauerhaft gesicherten Aufenthalt. Sie sind damit weniger rechtssicher integriert als syrische oder ukrainische Menschen, obwohl sie sich im Durchschnitt länger in Deutschland aufhalten.

Am unteren Ende der Statusskala verfügen nahezu ein Viertel aller Personen aus Drittstaaten nicht über einen Aufenthaltstitel, also über einen Status, der ihnen Grundrechte und Teilhabe zumindest befristet sichert, obwohl sich die Gesamtheit dieser Gruppe im Durchschnitt bereits über 13 Jahre in Deutschland aufhält. Bei Staatsangehörigen aus afrikanischen Staaten, Irak und Afghanistan ist der unsichere Aufenthaltsstatus bei mehr als einem Drittel und damit besonders häufig anzutreffen, obwohl die durchschnittliche Aufenthaltsdauer länger ist als bei Menschen aus Syrien oder der Ukraine.

Die niedrigen Raten nachhaltig rechtssicherer Integration sowie die hohen Anteile prekären Aufenthalts trotz langjähriger Aufenthaltsdauer belegen deutlich, wie sehr die immer wieder neu aufgelegte Strategie der Abschreckung und Rückführung gescheitert ist, weil sie die Integration großer Teile der Zugewanderten trotz jahrelangen Aufenthalts systematisch verhindert, anstatt wenigstens deren Potenzial für die Arbeitskräftenachfrage zu mobilisieren, wenn schon humanitäre Gesichtspunkte keine Berücksichtigung finden. 

Die Menschen aus Afghanistan und dem Irak, deren Flucht in erheblichen Teilen als Folge der gescheiterten „Demokratisierungskriege“ in diesen Ländern gesehen werden muss, sind dabei in beträchtlichem Ausmaß die Leidtragenden in einer oft dauerhaft prekären Lage und geringen Chance auf dauerhafte Integration, obwohl sie mit 25 Jahren im Schnitt 10 Jahre jünger sind als andere Drittstaatler und sogar 15 Jahre jünger als Zugewanderte aus Europa. Auch Zugewanderte aus afrikanischen Ländern sind weit überdurchschnittlich von Aufenthaltsprekarität betroffen und genießen – gemessen an der durchschnittlich viel längeren Aufenthaltsdauer – in geringerem Maße ein Daueraufenthaltsrecht. Das Potenzial für eine arbeitsmarktorientierte Bildungs- und Integrationsoffensive wäre also selbst bei niedrigerem Grundbildungsstand erheblich.

Schlussfolgerungen
Die Analyse der UNHCR-Daten belegt, dass Deutschland im globalen Kontext von einer Grenze der Belastbarkeit weit entfernt ist und nur gegenüber seinen westlichen Partnern eine Vorreiterrolle auf niedrigem Niveau einnimmt.

Sozio-ökonomische Problemlagen, die auch in Deutschland unübersehbar sind, sollen damit nicht in Abrede stehen, doch sind sie eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit und nicht den Geflüchteten anzulasten.

Die Ausländerstatistik bestärkt die Rückschlüsse aus zahlreichen Fallstudien und Beratungskontexten[3], dass komplexe und restriktive ausländerrechtliche Regelungen zu einer Verlangsamung und sogar Verhinderung von Integrationschancen geführt haben.

Die rechtlichen Voraussetzungen für eine nachhaltige Integration schafft Deutschland nur für eine Minderheit der Staatsangehörigen aus Drittstaaten außerhalb der EU, während eine große Zahl dieser Zugewanderten aus unterschiedlichen Gründen in einem unsicheren bis prekären Aufenthaltsstatus steckt. Dies ist in den östlichen Flächenländern bis zu dreimal häufiger der Fall als in der alten Bundesrepublik, obwohl der Ausländeranteil aus Drittstaaten dort wesentlich niedriger ist.

Unter den größten Flüchtlingsgruppen der letzten 10 Jahre sind Zugewanderte aus Afghanistan und dem Irak, deren Flucht in erheblichen Teilen als Folge der gescheiterten „Demokratisierungskriege“ in diesen Ländern gesehen werden muss, sowie Staatsangehörige afrikanischer Staaten von prekärem Aufenthalt und geringeren Chancen auf ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht besonders betroffen.

Angesichts des immer wieder postulierten Arbeitskräftebedarfs können die mangelnde strukturelle Integrationsbereitschaft Deutschlands und die verbreitete und regional noch polarisierte Prekarisierung großer Zuwanderungsgruppen nur als integrationspolitische Katastrophe gelten.

Zwischen „Flüchtlingsgipfeln“ in Land, Bund und EU, die einmal mehr eine Strategie des Abschreckens und Abschottens fortschreiben, dieses Mal unter rot-grüner Federführung, sinkt ein Fischerboot mit Hunderten Schutzsuchender auf den Grund des Mittelmeers. Woher nehmen Frau Baerbock und Frau Faeser die Gewissheit, dass die Ertrunkenen, die das Risiko einer solch gefährlichen Reise auf sich genommen und sogar teuer dafür bezahlt haben, sich in ein Lager an den Außengrenzen begeben hätten, wie es der „EU-Flüchtlingskompromiss“ vorsieht? Der „Asylkompromiss“ ist ein erschreckender Ausdruck von Realitätsverweigerung, nach außen und nach innen.


[1] Vgl. dazu u.a. Gundelach, L. (2020). Recht als Integrationshemmnis. In: Jepkens, K., Scholten, L., van Rießen, A. (eds) Integration im Sozialraum. Springer VS, Wiesbaden;

Brücker, H. (2022), iab-Forschungsbericht 4/2022, S.20f, Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg. 

[2] Da die Daten des Ausländerzentralregisters aus Datenschutzgründen nicht als Einzeldatensätze vorliegen, mit denen der Wechsel zwischen verschiedenen Gruppen statistisch exakt gemessen werden könnte, wird die Analyse auf Basis aggregierter Gruppenergebnisse im Jahresverlauf bzw. für einzelne Länder vorgenommen.

[3] Siebert, R. (2019): Der steinige Weg zur beruflichen Integration : Was Ankommensgeschichten von Zugewanderten über Fachkräftebedarfe und Integrationsverläufe erzählen und was wir daraus lernen (können) in: Alexandra David et al [Hrsg.]: Migration und Arbeit : Herausforderungen, Problemlagen und Gestaltungsinstrumente, Opladen 2019

© Reiner Siebert, 20. Juni 2023